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Samstag, 05. November 2022

Chagall EXODUS. Eröffnung hier mit Laudatio Text

Die außergewöhnliche Chagall Ausstellung hat viele Besucher am Eröffnungstag zur Gemeinde St. Michael nach Grohn gelockt. Davon erzählen einige Fotos der Vernissage. Den Eindruck, den die großformatigen Lithografien hinterlassen, kann noch bis zum 27.11. gesehen werden. Die Klezmer Musik von Dagmar Weiß Gesang und Jürgen Blendermann am Flügel ist mit ihrem Zauber verflogen. Die vielfältige und nachdankenswerte Laudatio von Jürgen Meierkord ist in den vorgetragenen zwei Teilen jedoch weiter unten nachzulesen.

Teil 1 der Laudatio von Jürgen Meierkord

I.Ich beginne mit einem Rückblick, in der Zuversicht, dass die in der Bibel beschriebenen Ereignisse wieder in Erinnerung geraten.

Dabei orientiere ich mich am Bilderzyklus von Chagall:

Im 1. Buch Mose wird zunächst die Urgeschichte erzählt mit der Schöpfungsgeschichte, dem Sündenfall und der Sintflut.

Danach geht es um die Vätergeneration mit den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob - samt der Verheißung Gottes an Abraham, seine Nachkommen zu einem großen Volk werden zu lassen und sie ins Land Kanaan zu führen.

Nachkommen, so heißt es, sollen „so zahlreich wie Staub“ und „wie die Sterne am Himmel“ geboren werden.

In diesen Geschichten kommt Ägypten gut weg:

- Abraham etwa flieht dorthin und wird gut behandelt

- die Jakob-Sippe wandert wegen einer Hungersnot nach Ägypten

- Joseph, der von seinen Brüdern dorthin verkauft wird, steigt zum zweiten Mann im Staate auf.

 

II.Im Exodus verkehrt sich das Ägypten-Bild in sein Gegenteil: Ägypten wird hier zum Inbegriff despotischer Willkür.

  • Sind die Israeliten zunächst Gäste, dann Gastarbeiter, so sind sie nun zu Staatssklaven geworden und bezeichnen Ägypten als „Haus der Knechtschaft“ (Exod. 20, 2), als „Sklavenhaus“. Durch Zwangsarbeit als Steineklopfer und Pyramidenbauer machen ihnen die Ägypter „ihr Leben sauer“ und das „mit Unbarmherzigkeit.“ (Exod. 1,14)
  • Die Verheißung der Vermehrung hat sich mittlerweile erfüllt: Mit 70 Personen ist die Jakob-Sippe damals in Ägypten eingezogen, nun leben dort mehr Menschen vom Stamm Israel als Ägypter.
  • Und so befiehlt der Pharao, alle neugeborenen Söhne der Hebräer in den Nil zu werfen.
  • Eine der Frauen macht das nicht mit, baut einen Kasten aus Schilfrohr, legt das Baby hinein und setzt es ans Ufer des Nils.
  • Die Pharao-Tochter entdeckt das Kind, nimmt es auf, obwohl hebräisch, nennt es Mose, und der Junge wächst mit Sinn für Gerechtigkeit am Hof heran.
  • Später sieht er, wie ein Ägypter auf einen Hebräer eindrischt, erschlägt den Ägypter und muss fliehen.
  • Die Hebräer seufzen über ihre Unterdrückung, ihr Geschrei dringt zum Himmel, Gott erinnert sich an seinen Bund mit Abraham, Isaak und Jakob, sieht Mose und offenbart sich in einem brennenden Dornbusch.
  • Mose soll sich aufmachen nach Ägypten und den unterdrückten Israeliten vom Plan Gottes berichten, nämlich sie aus der Knechtschaft befreien und in das bereits Abraham versprochene Land Kanaan führen, ein Land, „in dem Milch und Honig“ (Exod. 3, 17) fließen.“
  • Er soll zum Pharao gehen und ihm von diesem Plan berichten.
  • Da Mose eine „schwere Zunge“ (Exod. 4, 10) hat, empfiehlt Gott ihm, seinen Bruder Aaron mitzunehmen.
  • Hier bahnt sich bereits die Arbeitsteilung an: Der eine wird zukünftig mit Gott reden, der andere, Aaron, mit dem Volk.
  • Der Pharao lehnt es ab, die Hebräer fortgehen zu lassen.
  • Nun werden dem Pharao zehn Plagen an den Hals gehetzt: Gott verleiht dem Wanderstab von Mose magische Kräfte, sodass das Wasser im Nil sich in Blut verwandelt.
  • Frösche sterben, Mücken fallen über Mensch und Tier her, Hagel kommt herab und Heuschreckenschwärme bringen Finsternis und überfallen das Land.
  • Die zehnte und letzte Plage:

Alle ägyptischen Erstgeborenen, auch die vom Vieh, werden in der Nacht von Gott selbst getötet.

  • Die Hebräer sollen ein Lamm schlachten, die Türpfosten mit Blut einstreichen, damit Gott sieht, wo die Hebräer wohnen.
  • So werden sie verschont. Das Lamm soll auf bestimmte Weise gegessen werden. Brot soll gebacken werden.
  • Jetzt lässt der Pharao das Volk ziehen, bereut es wenig später und jagt mit einer gewaltigen Streitmacht hinterher.
  • Die Israeliten kommen an ein Schilfmeer, Mose streckt seine Hand mit dem Stab aus. Das Meer teilt sich, das Volk durchquert im Trockenen das Wasser. Mose erhebt erneut seine Hand, das Wasser kehrt zurück und verschlingt die Verfolger samt Ross und Reiter.
  • Miriam, Moses und Aarons Schwester, stimmt zusammen mit anderen Frauen ein Danklied an.
  • Drei Tage lang ist kein Wasser in Sicht, das Volk murrt; Mose berührt mit dem Stab einen Felsen, aus dem nun Wasser quillt.
  • Das Volk murrt weiterhin, hat Hunger, erinnert sich an Ägypten, und das Land der Sklaverei verklärt sich zu einem Land mit „gefüllten Fleischtöpfen“. Gott lässt Manna und Wachteln vom Himmel regnen.
  • Ein Wüstenvolk, die Amalekiter, kämpfen gegen Israel, sie werden unter der Führung von Josua besiegt.
  • Am Berg Sinai empfängt Mose die Zehn Gebote, Gott verlangt ein Hebopfer, also eine freiwillige Spende, so wird u.a. Gold eingesammelt und ein siebenarmiger Leuchter wird gebaut.
  • Gott ruft Mose erneut auf den Berg und übergibt ihm die Tafeln eines Bundes, den Gott mit dem Volk Israel beschließt.
  • Mose verweilt 40 Tage und Nächte auf dem Berg, das Volk zweifelt mittlerweile daran, dass Mose zurückkehrt und hat sich unter der Anleitung von Aaron ein Goldenes Kalb gebaut.
  • Mose wirft die Tafeln auf die Erde, zerschmelzt das Kalb und besänftigt Gott, der enorm tobt.
  • Die Tafeln werden erneuert, ein Zeltheiligtum wird unter Mithilfe vom Künstler Bezalel errichtet, Mose und Aaron erhalten purpurne Kleider, und Mose segnet das Volk Israel.
  • Die Gotteswolke schwebt vorweg; von nun an wird sie das Volk hin zum Gelobten Land leiten.

Teil 2 der Laudatio von Jürgen Meierkord

I.Mit dem Exodus-Text tauchen wir ein in ein Ägypten, was marode ist und morsch, überreif für politische Veränderungen. Es ist ein „Haus der Knechtschaft“, wie es in der Bibel heißt.

Ägypten, so können wir sagen, ist das System der alt-orientalischen Königtümer, aus dem man sich schleunigst befreien muss, um in etwas Neues einziehen zu können.

 

II.Der Exodus erzählt nun diese großartige Geschichte im Dreischritt: vom Auszug, von der Wanderung in der Wüste, und vom Einzug.

Der Auszug wird erzwungen durch katastrophale Lebensbedingungen. Zwischen Auszug und Einzug liegt das, worauf es eigentlich ankommt: Die Umwandlung der auswandernden Masse in ein Staatsvolk durch den Bund, den Jahwe mit ihnen am Sinai schließt.

Nach dem Auszug kommt der Einzug in den Gottesbund.

Die Verfassung, das Gesetz mit dem umfangreichen Regelwerk, offenbart Gott dem auserwählten Volk als Grundlage für eine gerechte Gesellschaft - ohne Ausbeutung und ohne Unterdrückung.

 

Der Exodus-Text im 2. Buch Mose endet mit der Schilderung der Gottesnähe durch die Wohngemeinschaft mit Jahwe im Zeltheiligtum.

Wir allerdings wissen, dass diese Geschichte noch lange nicht zu Ende ist. Denn die Wanderung geht jetzt erst richtig los.

Im Deuteronomium, im 5. Buch Mose, wird dieses „halsstarrige Volk“ (Exod., 32, 9) erneut in die Wüste geschickt auf 40jährige Wanderschaft und darf erst danach über den Jordan gehen und das gelobte Land Kanaan betreten. Ohne Mose. Die bekannte Stelle lautet:

„Und der HERR sprach zu ihm (Mose): Dies ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe (…) Du hast es mit deinen Augen gesehen; aber du sollst nicht hinübergehen.“ (Deut., 34, 4)

III.Noch aber sind wir auf dem Berge Sinai. Gott verkündet die Zehn Gebote und das „Bundesbuch“, und der Bund wird besiegelt. Dem Volk teilt Mose die empfangenen Vorschriften mit - und die Israeliten stimmen zu: „Alle Worte, die der Herr gesagt hat, wollen wir tun.“ (Exod., 24, 3).

Dieser Vorgang ist im religionsgeschichtlichen Vergleich ohne Beispiel.

Hier sind keine Könige am Werke, die ihrem Volke Gesetze oder Vorschriften von Göttern mitteilen.

Am Fuße des Sinai spricht Gott selbst mit seinem auserwählten Volk, diese Religion braucht keinen König als Gesetzgeber.

Es ist die Gründung einer neuen Religion, die auf Offenbarung und Bund beruht – im Unterschied zu Götterreligionen, die kein Gründungsereignis kennen.

Es ist der Ausstieg aus einem Göttersystem - und der Neubeginn in einem Glaubenssystem mit nur einem Gott.

Glaube beruht ja auf einem Nicht-Zweifeln an dem, was man nicht sieht.

IV.Wer diesem Bund treu bleibt, sich also wie ein Partner in einer Liebesbeziehung verhält, den erwartet als Belohnung Heil.

Jahwe gibt seine Zusage zur ewigen Bundestreue mit dem auserwählten Volk.

Zur Treue gehört auch die Eifersucht; und wo es Treue gibt, ist Untreue nicht weit.

Die zentrale Unterscheidung ist die zwischen Treue und Verrat; Gott tritt im Exodus nicht nur als liebender Vater, sondern auch als eifersüchtiger Ehemann auf, der seine Braut Israel gnadenlos bestraft, wenn sie ihn mit anderen Göttern betrügt.

Beim Abstieg vom Sinai sieht Mose das Goldene Kalb und das tanzende Volk. Kaum ist der Bund geschlossen, wird er vom Volk gebrochen.

Und Mose zerschmettert die Tafeln.

Mit einer Heftigkeit gegen die Frevler hält er ein furchtbares Strafgericht. Es wird zur „Urszene am Fuß des Gottesberges.“ (Sloterdijk)

Gegen das erste und gegen das zweite Gebot ist verstoßen worden:

- Du sollst keine anderen Götter neben mir haben (Exod., 20, 3)

- Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen (Exod., 20, 4)

„Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott … (Exod., 20, 5)

Und später heißt es noch einmal:

„Denn der Herr heißt ein Eiferer; ein eifersüchtiger Gott ist er.“ (Exod. 34, 14)

Den Monotheismus, den Ein-Gott-Glauben, gibt es nicht ohne Eifersucht.

Und mit dem eifersüchtigen Gott kommen Keuschheit und deren Kehrseite, nämlich Sündhaftigkeit, in die Welt.

V.Deshalb taucht Jahwe als Sturmgott mit enormer Zornbereitschaft und Zorneswildheit auf - entschlossen, sein gesamtes Volk zu vernichten.

Und jetzt folgt eines der schlimmsten Kapitel der Religionsgeschichte: Mose versammelt die im Glauben nicht Abtrünnigen, die Leviten, zu sich und spricht:

„Gürte ein jeglicher sein Schwert um seine Lenden (…) und erwürge ein jeglicher seinen Bruder, Freund und Nächsten.

Die Kinder Levi taten, wie ihnen Mose gesagt hatte; und es fielen des Tages vom Volk drei tausend Mann.“ (Exod. 32, 27)

Die Abweichler, die Anbeter des Kalbs, werden verstoßen und getötet. Das gilt nur für die eigenen Leute, für diejenigen, die Treue geschworen und sie nicht gehalten haben – es gilt nicht für Angehörige anderer Religionen, für Fremde oder für Heiden.

Erst in der Spätantike werden drei Religionen auftreten, die auf Offenbarung und Glauben beruhen: Das rabbinische Judentum, das Christentum, ergänzt durch das Neue Testament und der Islam mit dem Koran.

Von nun an stehen sich drei Religionen mit Wahrheits- und somit auch mit Geltungsansprüchen gegenüber.

Und zwei von ihnen, das Christentum und der Islam, begehen den Sündenfall, indem sie das Lager mit der weltlichen Macht teilen, sich mit der politischen Macht verbinden und dann aneinander geraten.

Das ist die Geburtsstunde für eifernde Gotteskämpfer. Und religiöse Gewalt ist auch heute hochaktuell.

VI.Die Exodus-Geschichte beschreibt nicht Geschichte, wie sie verlaufen ist. Wir sollten den Text als literarische Fiktion und damit symbolisch verstehen.

Diese Erzählung hat Geschichte gemacht, indem sie über Jahrhunderte weitergetragen worden ist. Immer wieder. Bis heute. Das ist der Sinn des Pessach-Festes. Die Geschichte so zu erzählen, als sei man selbst dabei gewesen.

Das Entscheidende ist ihre Wirkung als Erzählung.

Dabei geht es auch um den Traum, dass Ideen materielle Kraft bekommen können und Freiheit über Knechtschaft triumphiert.

Was ist stärker – die Macht von Panzern oder die Kraft von Ideen?

Befreiung, Sinai, Manna und Kanaan sind auch weiterhin Chiffren, die unsere Wahrnehmung der politischen Welt leiten.

- Ägypten ist überall.

- Und: Es gibt einen besseren Ort: ein Kanaan.

- Und: Der Weg zu diesem Land wird durch die Wüste führen.

VII.Mein Tagebucheintrag/ Mittwoch, 19. Oktober 2022:

Aus Hamburg kommend, sitze ich im Zug von Bremen nach Vegesack;

Englisch, Russisch, Arabisch und weitere, exotisch klingende Sprachen, die ich nicht kenne, füllen den Waggon. Eingewanderte allesamt. Fremde.

Fremd-sein heißt: von woanders her stammen, im Hier nicht daheim sein.

Fremde. Nicht eingeladen. Gekommen, um zu bleiben. Irgendwie unheimlich ist das auch.

Flüchtlinge? Asylanten?

Die Fluchtgründe sind weit komplexer, als unser Asylrecht sie abbilden kann. Klassische Kategorien taugen nicht mehr - die Figur des „wirklich Verfolgten“ passt nur noch in der Theorie und trifft tatsächlich nur auf immer weniger Menschen zu.

Doch was heißt Verfolgung, wenn es keine Zukunft gibt, weil tragende Strukturen in den Herkunftsländern zusammengebrochen sind?

Wir sollten uns darauf einstellen, dass die Wanderungen, die uns bevorstehen, unkontrollierbar werden. Denn jenseits von Arbeit und Geld gibt es noch etwas ganz Anderes:

Flüchtende folgen auch einem Traum, meist weit entfernt von jener Wirklichkeit, die sie in unserem Land erwartet. Das aber ist ihr gutes Recht. Es ist ihre Sehnsucht, für die sie alles herzugeben bereit sind.

Wieder zu Hause, lese ich nach bei Ernst Bloch, dem großen Utopisten, dem Juden, dem Verfolgten und Vertriebenen, der den dritten Band seines Werkes „Das Prinzip Hoffnung“ so beschließt:

„Hat der Mensch sich erfasst in realer Demokratie, so entsteht in der Welt etwas, was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (S. 1628)

Literatur:

Assmann, Jan: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Ffm. 2000

ders.: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München 2006

ders.: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015

Beck, Ulrich: Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Ffm. 2008

Sloterdijk, Peter: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Ffm. und Leipzig 2003

ders.: Im Schatten des Sinai, Berlin 2013

Walzer, Michael: Exodus und Revolution, Ffm. 1995