10. Dezember 2024
Predigt von Pastor Bernd Kuschnerus im Festgottesdienst
Es beginnt mit einem zarten Pflänzchen. In satter dunkler Erde ist es gut verwurzelt. Behutsam wird es von einer Hand in die andere übergeben. Die gebende Hand ist grün, als käme sie direkt von der Quelle des Lebens. Die andere Hand ist offen. Bereit, die Gabe zu empfangen. Pass gut darauf auf! Lass es nicht fallen! Bewahre es, gieß es, dann kann es wachsen. Was in ihm angelegt ist kann sich entfalten. Frucht bringen. Dann wird es nicht allein bleiben.
Pflanzen wir den Setzling in den Garten. Wie widerstandsfähig der kleine Halm ist: In diesem Frühsommer war alles trocken und gelb nach langer Hitze. Doch sofort, wenn etwas Regen fällt, färbt sich der Garten dunkelgrün und bunt und füllt sich mit Leben. Es riecht nach Erde, feuchten Blättern und Blüten. Üppig wächst das Gehölz. Mit unzähligen Insekten und Vögeln teilen wir das Grün. Die Johannesbeeren teilen wir uns mit Grasmücken und Amseln. Mauselöcher lassen sich am Boden finden. Einige Maulwurfshügel. Winzig kleine Frösche springen im hohen Gras. Im Spinnennetz am Rosenspalierhaben sich einige der Mücken verfangen. Die Nachbarskatze lässt sich auch wieder blicken. Und der fröhliche Lärm von spielenden Kindern weht herüber. Er übertönt das Gesumm der Wespen, die sich in der Hauswand eingerichtet haben. Was für ein Geschenk ist es für mich Stadtmenschen, wenn ich diese Fülle entdecken kann.
Die ganze bewohnbare Erde ist ein Garten. Er ist uns geliehen, damit wir ihn bebauen und bewahren. Das geht nur in einem respektvollen Umgang mit anderen Lebewesen und der Natur. Mit den seltsamen bunten Wesen und Fischen, die im Wasser wimmeln, den Vögeln, die am Himmel rauschen und flattern, den Pflanzen und Tieren, die das Land beleben, und auch mit uns Menschen. Wir selbst sind eingewoben in ein dichtes Netz der Mitgeschöpfe. Ohne sie könnten wir nicht leben. Wir leben von Voraussetzungen, die wir nicht geschaffen haben. Ich staune über die kreative Kraft, die sich an allem Lebendigen zeigt, über die Vielfalt von Pflanzen, Tieren und Menschen: „Gott, deine Güte ist unvorstellbar weit wie der Himmel. Mensch und Tier erfahren deine Hilfe.“
Was erfüllt unser Leben? Die meisten von uns in Deutschland leben in einem Wohlstand, von dem die Menschen in vergangenen Zeiten nur hätten träumen können. Alles ist jederzeit verfügbar. Frische Erdbeeren im Winter, den jederzeit passenden Musiktitel im Stream, Autofahren ohne Limit. Wir können wieder in den Urlaub fliegen. Jedenfalls die, die es sich leisten können. Leben wir nicht in Fülle?
Doch dieses Verständnis von Fülle zeigt seine Kehrseiten. Der Preis, den wir zahlen, ist hoch. Wie weit sind wir gekommen mit unseren Schloten, Verkehrs-Staus, der Rodung von Regenwäldern, der Massentierhaltung, der Flächen-Versiegelung durch Parkplätze, Industrieanlagen und Schottergärten? Inzwischen bekommen wir die Auswirkungen von Umweltzerstörungen und Klimawandel zu spüren: Wir haben gerade den wärmsten Juli seit Beginn der Aufzeichnungen erlebt. Erinnern wir uns an die Warnungen, dass wir im Schatten bleiben sollen und genügend Wasser trinken. Denken wir an die Nachrichten über lodernde Waldbrände und Hochwasser, über Stürme und Korallensterben.
Aber die Folgen des Klimawandels treffen als allererste diejenigen, die am wenigsten zu ihm beitragen, vor allem die Menschen des globalen Südens. Was für eine Ungerechtigkeit ist das! Während sich die einen ein Leben im Wohlstand sichern wollen, versuchen die anderen dem Tod zu entkommen.
„Etwas Besseres als den Tod findest du überall“, mit diesem Satz brachen einst die „Bremer Stadtmusikanten“ aus ihrem Elend auf. Das könnte der Satz von Menschen sein, die sich heute mit ihren Kindern in nicht seetüchtige Nussschalen setzen, um über das Meer zu fahren, nur weg von Armut, Dürre oder Überschwemmung. Wie verzweifelt muss man sein, um sich auf diesen Weg zu machen!
Die alte Wachstumsidee führt in eine Sackgasse. Schon vor über 50 Jahren haben die Wissenschaftler des Club of Rome davor gewarnt, dass wir die Grundlagen unseres Lebens zerstören. Wir haben heute längst die Grenzen erreicht. Viele von uns sind von den Krisen verunsichert. Wir spüren, dass es keine Selbstverständlichkeit mehr ist, immer und überall von allem genug zu haben. Vielen bereitet das Unbehagen. Viele haben Angst vor der Zukunft. Und die Leute reagieren sehr gegensätzlich: Die einen verschließen die Augen und wählen rechtsradikale Leugner des Klimawandels, andere kleben sich verzweifelt auf die Straße.
Wir müssen also neu darüber nachdenken, was ein erfülltes Leben ist. „Damit ihr das Leben in Fülle habt“ – dieser Satz steht im Johannesevangelium. Da sagt Jesus Christus: Ich bin gekommen, damit ihr das Leben in Fülle habt. Was das bedeutet, beschreibt das Johannesevangelium in Bildern.
Das erste Bild führt in die Landwirtschaft, in die Schafzucht. Christus sagt: Ich bin der gute Hirte. (Joh 10,11) Bei diesem Hirten steht das Tierwohl an erster Stelle. Er kennt seine Schafe, jedes einzelne. Er ruft sie beim Namen. Und sie vertrauen ihm. (Joh 10,3f.14.27) Er führt sie auf eine grüne Weide. Dort haben sie von allem zu Genüge. Der gute Hirte ist über allen Maßen fürsorglich. Dieser Hirte lebt nicht auf Kosten anderer. Im Gegenteil. Er lässt sogar sein Leben für die Schafe. (Joh 10,11)
Das Bild des Hirten zeigt uns Gottes Fürsorge. Gottes schöpferische Liebe gibt uns nicht auf. Sie hält über den Tod hinaus an uns fest. „Ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“ sagt Christus im Johannesevangelium. (Joh 10,28) An Christus erscheint eine göttliche Kreativität, die sogar noch über die Grenze unseres geschöpflichen Lebens hinausgeht. So wird er selbst zur Tür in das Leben. Das ist das zweite Bild.
Christus führt uns ein anderes Leben vor Augen. Er kann sich loslassen und sein Leben für andere geben. Gerade darin erfüllt sich sein Leben (Joh 10,17). Er lebt ganz aus Gott und ganz für andere. „Wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden,“ sagt Christus, „ich bin die Tür“. (Joh 10,9)
Hirte und Tür: Für mich zeigen diese Bilder, worin ein erfülltes Leben bestehen kann.
Ein Leben in Fülle ist ein Leben in Beziehungen.
Liebe ist der Durchgang zu diesem erfüllten Leben.
Werde ich nicht gerade dann lebendiger, wenn ich für andere offener und verwundbarer werde? Ich erlebe es, wenn ich aufmerksam bin für das Lachen und die Tränen von Kindern. Wenn ich Zukunftssorgen und Hoffnungen von Jugendlichen ernst nehme und ihnen zuhöre. Oder wenn ich in ein intensives Gespräch mit Menschen gerate, die mir zunächst fremd vorkommen. Und dann kommt der Punkt, wo wir auf einmal etwas voneinander verstehen. Und schließlich: Entdecken wir nicht eine Lebensfülle, wenn Pflanzen und Tiere nicht nur Material für unseren Gewinn sind, sondern wenn wir sie respektieren?
Im Evangelium treffen wir auf das Angebot, dass wir in Christus einen Durchgang zu solchen Erfahrungen finden. Dass er der Weg ist, den wir gehen könnten. Das wäre etwas, wenn wir mit Gottes Hilfe von uns absehen könnten! Wir könnten andere Menschen als Nächste Gottes sehen lernen und Tiere, Pflanzen und die ganze Welt als Gottes Geschöpfe.
Ein gutes Leben kann bedeuten, sensibel zu werden für die Schönheit und Zerbrechlichkeit dieser Welt. Es ist ein Leben in Beziehungen, in gerechten Beziehungen mit anderen Menschen und in der Achtung vor allen Geschöpfen. Es kann bedeuten, dankbar zu sein, für die Fülle, die uns geschenkt ist, für die Erde, die uns trägt, die Luft, die wir atmen, für Tiere und Menschen, die uns an die Seite gestellt sind.
Als Kirchen kommen wir aus verschiedenen Traditionen und Ländern zusammen. Wir sind in der Ökumene verbunden mit Menschen aus aller Welt. Wir können uns miteinander austauschen, einander zuhören. Ich muss an die Frauen eines kirchlichen Projektes in Togo denken. Sie erzählten, wie die länger anhaltende Trockenheit ihre Ernte von Ingwer, Kurkuma und Erdnüssen gefährdete. Auf der Versammlung der Norddeutschen Mission in diesem April haben die Geschwister von Kirchen aus Togo, Ghana und Deutschland gemeinsam über Klimaschutz diskutiert, darüber, wie wir den Energieverbrauch hier reduzieren und die Veränderungen in gemeinsamen Projekten berücksichtigen können.
Wie gut ist es, dass wir gemeinsam in der ACK den Schöpfungstag feiern! Über die Grenzen der Konfessionen hinweg. Miteinander dürfen wir Gott für den Reichtum und die Schönheit dieser Welt danken. Für alltägliche Wunder. Gemeinsam können wir etwas zur Bewahrung des Gartens beitragen. Ich bin überzeugt, wir brauchen einander, die Ideen, die Erfahrungen und Gaben, die unseren jeweiligen Traditionen entspringen. Wir können voneinander lernen und uns so beschenken lassen.
Keine Kirche, keine Glaubensgemeinschaft hat den guten Hirten für sich gepachtet. „Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall“, sagt Christus im Johannesevangelium.(Joh 10,16) Gott sorgt auch für andere und nimmt sie in seinen Dienst für das Leben. Lassen wir uns davon überraschen, wer uns noch alles auf diesem Weg begegnet!
Wir verdanken uns und unsere Welt nicht unserer eigenen Entscheidung. Wir empfangen alles mit leeren, offenen Händen. Doch wir können Verantwortung für dieses göttliche Geschenk Erde übernehmen, statt es gedankenlos zu zerstören. Gott hat uns nicht nur als Menschen erschaffen. Gott arbeitet auch an unserer Menschlichkeit.
Wird es uns auf demokratischen Wegen gelingen, uns gemeinsam für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen und für Gerechtigkeit stark zu machen? Stellen wir uns selbst die Frage: Was ist für uns wirklich wichtig im Leben? Welche Haltungen zeigen sich in der Art und Weise, wie wir leben? In dem, was wir essen, was wir kaufen, wie wir wohnen, wie wir uns fortbewegen? Welche Aufträge und Ideen unterstützen wir bei denen, die für uns in der Politik Verantwortung tragen?
Wir könnten einander Lust auf ein Leben machen, in dem der Beziehungsreichtum wächst. Vor allem können wir gemeinsam Gott bitten, dass seine unerschöpfliche Kreativität weiter an uns arbeitet. Wie wäre es, wenn wir uns zum Guten verlocken und von der Stimme des guten Hirten ins Leben rufen ließen! Sein Versprechen lautet: Die Tür ist geöffnet.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unseren Herrn.
Pastor Dr. Bernd Kuschnerus ist Schriftführer in der Bremischen Evangelischen Kirche.
Diese Predigt hielt er im Festgottesdienst zur zentralen Feier des Ökumenischen Tages der Schöpfung
am Freitag, den 1. September 2023