Ein altes Haus erzählt seine Geschichte

Das forum Kirche  hat seinen Sitz in der um 1900 erbauten "Villa Müller-Schall" in der Hollerallee. Im Verlauf der Jahrzehnte wurde das Haus sehr unterschiedlich genutzt. Auf dieser Seite finden Sie eine Geschichte des Hauses in vier Kapiteln.

1. Privathaus: 1902 bis 1930

„Stadtnah und ruhig – wir brauchen ein Haus mit etwa 1.200 m² Wohn- und Nutzfläche für unsere vierköpfige Familie und unser Personal.“ 1899 erhält der Architekt Fritz Dunkel diesen Auftrag. Die Bankiersfamilie Müller-Schall will aus den USA nach Bremen zurückkehren.

Fritz Dunkel hat sich schon einen Namen gemacht: Er hat die Silberwarenmanufaktur Koch und Bergfeld in der Neustadt und Häuser Am Markt 15/16 und Auf den Häfen 12-15 entworfen. Im Januar 1900 legt er erste Skizzen vor: eine repräsentative Privatvilla auf ehemaligem Eisenbahnterrain am Bürgerpark. Dieser Teil der Hollerallee wird gerade neu erschlossen, von vier Eichenreihen gesäumt, mit einer Fahr- und einer Reitspur und zwei befestigten Bürgersteigen. Auf den Rückseiten aller neuen Grundstücken zur Caprivi-, heute Parkstraße, entstehen Remisen für Pferde und Wagen. 1902 ziehen alle ein: Vater (56), Mutter (42), Tochter (16), Sohn (13) und einige Dienstboten: Köchin, Hauslehrerin, Dienstmädchen, Gärtner und auch ein Kutscher: Franz Xaver Martin. Bis 1955 bewohnt er die Remise. Für ihren Dachfirst schmiedet er eine Wetterfahne, in die er seine Initialen integriert: F.M.

Heute ist das Grundstück Hollerallee 75/Parkstraße 107 das einzige noch zusammenhängende, alle anderen sind in zweiter Reihe bebaut. Es sind verschiedene Baustile sichtbar: Zur Straßenseite Historismus und Neoklassizismus, es gibt eine zinnenbewehrte Vorfahrt und einen wuchtigen Balkon ohne Zugangstür. Zur Gartenseite eher englischer Landhausstil und leichte Balkons. Innen überwiegt die sog. Deutsche Renaissance, es gibt Empire- und Rokoko-Zitate, kleine Jugendstil-Anmutungen im Souterrain.

Zur Innenausstattung von 1902 gehört die Zentralheizung, Bäder mit fließendem Wasser, Toiletten mit Wasserspülung, Mahagoni-Fenster mit englischen Beschlägen, vertäfelte Halle (Ulme?), Stuckdecken, Tafelparkett mit Intarsien und Marketerien, Kronleuchter und Billardraum, Sprechanlage zur Küche, Lift und Speisenaufzug.

Der renommierte und viel beschäftigte Bremer Auftragsmaler Arthur Fitger stattet die Halle mit einem Deckengemälde und einem Fries aus, der Goethes Text über Fausts Osterspaziergang folgt. Scherzhaft bemerkt er einmal, dass er im Lauf seines Lebens mit den Gehilfen „Kilometer Frieskompositionen, Hektare Plafondbilder, Hunderte (al)legorischer Gestalten und Tausende von Putten“ geschaffen habe.

Die Tochter des Hauses, Kitty, zieht 1907 nach ihrer Heirat mit Hermann Marwede (Leiter der großväterlichen Bremer Kaiserbrauerei Beck & Co) nach Oberneuland. Bruder Fred(erick) geht 1914 zurück nach New York. Friedrich Müller-Schall, der Bauherr, stirbt im März 1929. Teresa Müller-Schall ist jetzt Witwe. Sie ist aufgewachsen in einem weltläufigen Bankiershaushalt im thüringischen Bad Frankenhausen. Ihr Vater Wilhelm Schall war dort geschätzter Mäzen und Ehrenbürger. Im März 1930 zieht sie – fast 70-jährig – in die Schwachhauser Heerstraße, später zur Familie der Tochter nach Oberneuland (Haus Hohenkamp, Baumeister 1922/24: Rudolf Alexander Schröder). Das Haus steht vermutlich von 1930 bis 1934 leer, bleibt aber bis 1956 im Besitz der Familie.

2. SA „Gruppe-Nordsee“: 1934 bis 1945

1934 übernimmt die für den Weser-Ems-Raum zuständige SA „Gruppe Nordsee“ mit ihrem Stab das Haus Hollerallee 75. Ihr bisheriges Domizil an der Delbrückstraße 18 ist zu klein. Die Sturmabteilung steht ab 1935 unter der Führung des als rabiat bekannten Eutiner Juristen Heinrich Böhmcker. Weil er oft in Schlägereien verwickelt ist, wird er auch „Lattenheini“ genannt. Dennoch wird er 1937 Bremer Bürgermeister.

Am 9. November 1938 nimmt er eine Schlüsselrolle in der sog. “Reichskristallnacht“ ein: Aus München ruft er von einem NSDAP-Treffen um 22.30 Uhr im Haus Hollerallee 75 an und übermittelt dem ehrenamtlich Dienst habenden 27-jährigen Oberführer Werner Römpagel einen Befehl: „Sämtliche jüdischen Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. … Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. … Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. … Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. …“

Römpagel und der 28-jährige Sturmführer Arthur Groß setzen eine verhängnisvolle Telefonkette in Gang: Sie rufen bei der Bremer SA in der Kohlhökerstraße und im Buntentorsteinweg an, später in Geestemünde, von dort geht der Befehl weiter nach Aumund und Lesum … Am Ende der Nacht liegt die Synagoge in der damaligen Garten-, heute Kolpingstraße, in Schutt und Asche. Allein in Bremen wurden fünf Menschen ermordet: Adolph Goldberg, Martha Goldberg, Heinrich Rosenblum, Leopold Sinasohn und die Neustädter Fahrradhändlerin Selma Zwienitzki.

Die Protokolle eines der ersten Bremer Kriegsverbrecherprozesse 1946/1947 belegen die Ereignisse dieser Nacht. Wie biedere Bäckergesellen, Gärtner oder Musiklehrer buchstäblich über Nacht zu Mördern ihrer Nachbarn oder Mitbürger wurden, lässt sich an diesen Dokumenten so anschaulich wie selten sonst verfolgen.

Ein historisches Telefon, das dem 1938 hier im Haus verwendeten ähnelt, steht im Kaminraum auf einer Granitsäule und gemahnt – ebenso wie eine von Matthias Duderstadt entwickelte künstlerische Multimedia-Installation - an die Schrecknisse dieser Nacht.

3. Wollhandel Fuhrmann & Co KG: 1945 bis 1992

Zunächst als Mieterin der Familien Marwede und Müller-Schall, ab 1956 als Eigentümerin, residiert die 1735 in Lennep gegründete Wollimportfirma im Haus. Dem Zeitgeschmack folgend lässt sie einige Räume neu ausstatten: Die Veranda bekommt Einbauschränke aus Ulmenholz, das einstige Elternschlafzimmer wird mit Tropenholz vertäfelt und Chefzimmer für Henry S. Thomas. Eine integrierte Intarsie mit berittenen Gauchos und Schafherde erinnert an die Handelsbeziehungen mit Argentinien. Im Dachgeschoss wird zur Straßenseite ein großes Fenster eingebaut, um Wollproben im günstigen Nordlicht taxieren zu können. Mobile Zwischenwände in allen Etagen und eine Holzbaracke auf dem Rasen schaffen zusätzliche Büroräume für über 50 Angestellte. Im Kaminraum sind Sitzungen und Empfänge, mit Gästen steht man am großen Hallenfenster, um Wollmuster zu begutachten.

Zum 225. Jubiläum – 1960 – will die Firma die Fitger-Fresken übermalen lassen. Malermeister Finke bedeckt sie aber nur mit dünnen Holzplatten, die er dann tapeziert. So können 25 Jahre später die alten Malereien wieder ans Licht geholt werden. 1991 wird der Betrieb aufgelöst und das Haus an die Bremische Evangelische Kirche verkauft.

4. forum Kirche: seit 1993

Bis dahin sind die gesamtkirchlichen Ämter über Bremen verstreut. Mit dem Kauf des Hauses will die Bremische Evangelische Kirche diese Dienste bündeln, ihre Zusammenarbeit fördern und den NutzerInnen entgegenkommen. So ziehen 1993 sechs Einrichtungen in die Hollerallee. Veranda und Halle, Chefbüro und Musterzimmer werden Seminarräume. Im ehemaligen von der SA eingebauten Luftschutzkeller bewirtet die Kantine Gäste, Nachbarn und Angestellte. Unter dem Dach ist Platz für die religionspädagogische Bibliothek und alle Verleihmedien.

Der Name forum Kirche ist Programm: Das Haus ist jetzt ein öffentlicher, lebendiger Veranstaltungs- und Begegnungsort mitten in der Stadt. Jährlich etwa tausend Veranstaltungen mit über 10.000 Gästen spiegeln eine vielfältige Themenpalette wider. Unsere Gäste sehen uns so: Das forum „ist wichtige Brücke zwischen Kirche und säkularer Stadtöffentlichkeit“, „gibt Impulse in Gemeinden und Stadt“, „ist wichtiger Dienstleister für die Gemeinden“, „initiiert innovative Projekte“, „bietet Zugang für Kirchenferne“, „ist ein besonderer Ort des gemeinsamen Nachdenkens und des freien Diskurses über grundlegende Fragen des Individuums und der Gesellschaft“, ist „Ort gemeinsamen sozialen Lernens“, ist „Stimme in Bremen für Wehrhaftigkeit, Solidarität und gerechte Teilhabe“, „ist mahnendes Gedächtnis für die Schrecken der Reichspogromnacht“.

Recherchen und Text: Ottmar Hinz (+) und Ruth Fenko